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Quelle: Gea vom 02.09.05

 

Ein ganz normales Unternehmen


 VON GERHARD SCHINDLER   

Unbefristet angestellt: Wer heute eine Stelle sucht, träumt von einem Arbeitsvertrag mit diesem Status. In »Integrationsunternehmen« ist die Beschäftigung auf Dauer dagegen die Regel. Und das ist nicht einmal das Bemerkenswerteste an diesen Firmen, die auf Mitarbeiter spezialisiert sind, die am Arbeitsmarkt üblicherweise kaum eine Chance haben: Menschen mit einem Behinderungsgrad ab 50 Prozent, laut Gesetz eingestuft als »schwerbehindert«.   

Wie viele Integrationsfirmen in Deutschland existieren, weiß niemand so genau. Aber es sind noch immer viel zu wenige: »Es muss in jeder Stadt Integrationsfirmen geben, die das Leben und die Arbeitswelt bereichern«, sagt Renata Neukirchen. Und wenn diese Frau vor Elternkreisen, Managern oder Kommunalpolitikern spricht, gilt dieser Satz als Aufforderung: »Legt los! Es lohnt sich!«

Renata Neukirchen ist die Pionierin der Integrationsfirmen. 1989 gründete sie in München das erste Unternehmen, das sich bewusst auf behinderte Mitarbeiter spezialisierte. Damals hatte sich eine Elterngruppe genau dieselbe Frage gestellt, wie sie sich heute Manfred Breitinger, Rektor der Reutlinger Peter-Rosegger-Schule für Schüler mit geistiger Behinderung, der Elternkreis Netzwerk Reutlingen und die Reutlinger Lebenshilfe stellen: Wie geht es weiter mit unseren Kindern, wenn die Schule zu Ende ist?

Da gibt es zum einen natürlich die Behinderten-Werkstätten der sozialen Einrichtungen, in denen gehandicapte Menschen beschäftigt werden können. Die Münchner Antwort hieß allerdings »freier Markt« und »Umweltteam«: »Wir haben nach Tätigkeiten gesucht, bei denen man den Erfolg sieht und die einigermaßen gut bezahlt sind, und die fanden wir im Müllbereich«, berichtet Renata Neukirchen. »Unsere Idee war: Wir werden die netteste Müllentsorgungsfirma Bayerns.« Zwar war die Konkurrenz groß, doch fand sich gemeinsam mit der Stadt München eine Nische, in der die Integrationsfirma gedeihen konnte: Das Umweltteam reinigt seither das Umfeld der Wertstoffcontainer von zurückgelassenem Unrat.

»Natürlich gibt es tausend Unternehmen, die das billiger machen wollen.« Doch Renata Neukirchen, gelernte Bankkauffrau und Gruppenanalytikerin, heute 57 Jahre alt, kann sowohl rechnen als auch überzeugen. »Das Umweltteam arbeitet günstiger als wenn es die Stadt selbst macht. Und wir sind zuverlässig.« Als ein Teil des Auftrags an eine andere Firma vergeben wurde, hagelte es Beschwerden. Seither sind die zehn roten Kleinlaster, mit dem Schriftzug ihres jeweiligen Sponsors versehen, aus der Münchner Entsorgungsbranche kaum mehr wegzudenken.
Beim Umweltteam, das heute 31 behinderte und neun nicht-behinderte Mitarbeiter beschäftigt, ist es nicht geblieben. Unter dem Dach des Vereins cba - der Cooperative Beschützende Arbeitsstätten - sind noch zwei weitere Integrationsfirmen organisiert. Beide haben Erfolgsgeschichte geschrieben: Der Reinigungsservice »Putzblitz« punktet mit Zuverlässigkeit und Gründlichkeit bei Hausverwaltungen, Kanzleien und Behörden; das Restaurant »Conviva« hat sich seit neun Jahren in der Spitzengastronomie etabliert.

»Learning by doing« heißt das Prinzip in allen drei Firmen. Ausprobieren, dazulernen, sich bewähren, Anerkennung ernten - professionelle Anleiter verhelfen den Menschen mit Handicap zum ganz persönlichen Erfolgserlebnis. Den 110 behinderten Menschen, die mittlerweile über die cba beschäftigt sind, stehen 50 nicht-behinderte Mitarbeiter zur Seite.

Trotz aller sozialen Ansprüche stimmt die Kasse. »Unsere Firmen erwirtschaften 64 bis 66 Prozent ihrer Ausgaben selbst, 30 bis 34 Prozent werden mit Zuschüssen abgedeckt«, rechnet Renata Neukirchen vor. Die Agentur für Arbeit zahlt Eingliederungszuschüsse, aus dem Europäischen Sozialfonds fließen Gelder für die Qualifizierung ausgegrenzter Menschen, ein weiterer Teil stammt aus der Ausgleichsabgabe von Firmen, die nicht die vorgeschriebenen fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen. Spender und Sponsoren besorgen den Rest.

»Die Geschäftsidee muss einfach tragen, wie bei einer normalen Firma«

Die Mitarbeiter arbeiten Teilzeit. Bezahlt werden sie mit sechs Euro in der Stunde, »vergleichbar mit den Hilfsarbeiterlöhnen etwa bei BMW«, sagt Renata Neukirchen. Das ist deutlich über dem Entgelt einer Behindertenwerkstatt, wo im Schnitt zwischen 100 und 200 Euro im Monat ausbezahlt werden. Weil die Stellen sozialversicherungspflichtig sind, rechnet sich dies auch für den Staat. »Mit den 110 Mitarbeitern, die wir beschäftigen, gewinnt Bayern jährlich 800 000 Euro«, hat Neukirchen eingesparte Werkstattplätze und eingenommene Sozialabgaben zusammengerechnet.
»Unser Ziel ist auch, Mitarbeiter in anderen Firmen unterzubringen«, betont sie. Die Bilanz der cba lässt jede Arbeitsagentur erblassen: »Im Lauf der Zeit haben wir an die 600 Menschen in dauerhafte Arbeitsverhältnisse vermittelt.« Ein weiteres Ziel: die Wahrnehmung der Nicht-Behinderten zu verändern. »Die Menschen werden achtsamer«, meint Renata Neukirchen. Höchstleistungsansprüche weichen sozialer Kreativität.

Ganz Ähnliches berichten Kunden von Integrationsunternehmen quer durch die Republik. Das Hamburger Stadthaushotel etwa hat sich mit besonderem Service und herausragender Qualität nicht nur einen Platz in der Branche erobert. Das Konzept kommt bei den Gästen sogar so gut an, dass für 2008 ein zehn Millionen Euro teurer Neubau in der Hafen-City mit 80 Zimmern und 110 Arbeitsplätzen geplant ist. Im hohenlohischen Künzelsau hat die Unternehmerfamilie Würth mit dem Hotel Anne Sophie ebenfalls integrative Arbeitsplätze verwirklicht. In Hotel und Restaurant arbeiten Menschen mit Behinderungen auf qualifizierten Stellen, Besucher und Tagungsgäste begeistert die Atmosphäre.

Aber: »Die Geschäftsidee muss einfach tragen, wie in einem ganz normalen Unternehmen«, bringt Michael Schubert auf den Punkt, woran sich Integrationsunternehmen orientieren müssen. Als Geschäftsführer der Tübinger Integrationsfirma Integ GmbH hat Schubert vier Jahre Erfahrung; die fünf Unternehmen der Integ haben sich auf Bauhandwerk, Dienstleistungen rund ums Haus und die Montage hochwertiger Industriekomponenten spezialisiert. Derzeit sind zehn behinderte und ebenso viele nicht-behinderte Mitarbeiter dauerhaft beschäftigt, die Stundenlöhne liegen »ortsüblich« zwischen 7,50 Euro und 8,50 Euro.

Im Montagebetrieb, der in Münsingen angesiedelt ist, fertigt ein gemischtes Team - Mitarbeiter von Integ, Behindertenwerkstätten sowie Externe - komplexe Bausätze. »Wir halten damit Aufträge in Deutschland, die sonst in Billiglohnländer abwandern würden«, erklärt Schubert. Es gebe keinerlei Bonus für Sozialarbeit: Wer auf dem Arbeitsmarkt bestehen will, muss die Gesetze der Marktwirtschaft akzeptieren. (GEA)