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Foto: Gerlinde Trinkhaus

Quelle: GEA vom 10.12.05

 

Ein Kind wie jedes andere auch   

    VON ULRIKE GLAGE   

REUTLINGEN. Es war ein Schock, als Christiane Bölzle drei Tage nach der Geburt ihrer Tochter Isabelle erfuhr, dass ihr Kind das Down-Syndrom hat. Doch sie stellte sich schnell auf die kleine Isabelle ein. Und lernte sie lieben mit all ihren Besonderheiten. Heute ist Isabelle zwölf Jahre alt. Ein Kind, das ganz »normal« erzogen wird. Doch es gibt Grenzen für Kinder mit Down-Syndrom. Auch gesellschaftliche, die selbst die engagiertesten Eltern kaum überwinden können.   



»Bloß keine Tränendrüsengeschichte!« Das sagt Christiane Bölzle, Mutter von Isabelle. Isabelle, Hauptperson des Tages, läuft weg und weint. Sie begreift nicht, was die fremde Frau mit dem Schreibblock will und warum sie mit der Mutter spricht, wo es doch eigentlich um sie gehen soll. Um sie, das Down-Syndrom und das ganz besondere Leben mit dieser Beeinträchtigung. Wenn Isabelle etwas nicht gefällt, läuft sie eben weg oder knallt die Türe hinter sich zu. Wenn sie glücklich ist, strahlt sie und lacht ihr ansteckendes Lachen. Bei Kindern mit Down-Syndrom weiß man, woran man ist. »Sie trägt ihr Herz nach außen«, sagt die Mutter.

»Das Down-Syndrom ist keine Krankheit«

Momentan sieht es eindeutig finster aus im Herzen von Isabelle. Ihr Bruder Patrick versucht, sie aufzuheitern. Vergebens. »Isi ist heute nicht zu kriegen«, zuckt er die Schultern und geht. Wenn für das Mädchen etwas nicht »be-greifbar« ist, so die Mutter, wird's schwierig mit dem Verstehen. »Man muss sich unendlich viel Zeit nehmen für sie und ihr auch Zeit geben.«

Down-Syndrom, sagt Christiane Bölzle, ist keine Krankheit. Eine Behinderung, das ja. Sie präzisiert: »Es ist eine Beeinträchtigung im Denken.« Nicht nur das. Die Erziehung von Down-Syndrom-Kindern heißt auch: Entdeckung der Langsamkeit. Alles dauert länger. Das Sprechen, das Lesen und Schreiben. Weil die Muskulatur schwächer ist, auch das Krabbeln oder Laufenlernen. Patrick konnte mit zehn Monaten stehen, Isabell mit zwei Jahren. Mit fünf Jahren las Patrick Kinderbücher, Isabelle mit zwölf. Obwohl Patrick jünger ist, ist er der »große Bruder«.

»Im Moment bricht alles zusammen«

Trotzdem sagt Christiane Bölzle: »Isabelle ist ein Kind wie jedes andere auch.« Wenn zunächst auch alles anders war. Erst drei Tage nach der Geburt stellten die Ärzte fest, dass das Baby einen Gendefekt hat. »Im Moment«, erinnert sich Christiane Bölzle, »bricht alles zusammen - vor allem, wenn man es so gefühllos mitgeteilt bekommt.« Die Ärzte hatten nicht mit der jungen Mutter gesprochen, sondern ihren Mann abgefangen, der ihr dann die Nachricht überbringen musste. »Es war die erste Nacht in meinem Leben, in der ich kein Auge zugetan habe«. Christiane Bölzle wusste damals nicht viel über das Down-Syndrom. Eins aber wusste sie ganz genau: Wenn sie mit ihrem Kind zusammen war, ging es ihr gut. Und sie wusste auch, dass sie ihre Tochter nie in ein Heim geben würde: »Mein Kind wird nicht versteckt.«

Devise war deshalb für sie von Anfang an, Isabelle so normal wie möglich zu behandeln. Keine Extra-Wurst, auch in der Erziehung nicht. »Wir wollen, dass sie später, so weit es machbar ist, ein selbstständiges Leben führen kann.«

Um sie fit zu machen für dieses Leben, förderte Christiane Bölzle das Kind, wo immer es ging. Besuche bei der Logopädin, bei der Krankengymnastin, Lesen üben, ihr Flötenspielen beibringen: Sie hängte ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel, um ihrer Tochter so viel Zeit wie möglich widmen zu können. Aber nicht nur ihr. Isabell hat zwei Brüder, den zehnjährigen Patrick und den sechsjährigen Dominik. Für Kinder mit Down-Syndrom sind Geschwister, vor allem jüngere, enorm wichtig. »Sie machen mit ihnen jeden Entwicklungsschritt nochmal, lernen durch Wiederholen«, erklärt die 46-Jährige. Konflikte blieben nicht aus. Es gab eine Phase, in der es Patrick gar nicht passte, dass Isabelle so viel »Extra-Zeit« bekommt. Das ist vorbei. »Er liebt sie und findet, er hat eine tolle Schwester.«

Isabelle spielte mit ihren Brüdern, spielte mit den Nachbarskindern. Kein Problem, so lange alle klein waren. Noch nicht einmal im Kindergarten. An ihrem alten Wohnort hatte die Familie das Glück, einen Platz im integrativen Kindergarten zu ergattern. »Mein Kind war glücklich«, sagt Christiane Bölzle über diese Zeit. Nach dem Umzug klopfte sie dann im ganz »normalen« Kindergarten an. Man habe keine Erfahrung mit Down-Syndrom-Kindern, meinte die Leiterin, sei aber offen. Auch hier lief's problemlos. Dass sie wenig und schlecht sprach, störte die anderen allenfalls am Anfang. Aber beim Spielen, Puzzeln, Rumtoben war Isabell voll dabei.

Ihr Kind »normal« zu erziehen, hieß für Christiane Bölzle, sie nicht »wegzusperren« in eine Sonderschule, sondern sie eine Regelschule besuchen zu lassen. Doch jetzt taten sich gesellschaftliche Barrieren auf, die sich nicht so ohne weiteres überwinden ließen. »Viele Eltern denken selbst in diesen Schubladen, ich nicht - deshalb wollte ich es wenigstens versuchen.« Sie schaffte es zwar, Isabelle an eine Regelschule zu bekommen.

»Viele Eltern denken selbst in diesen Schubladen«

Doch zusätzliche Fördermaßnahmen wie für Sehbehinderte oder Körperbehinderte gab es keine. Also setzte sie sich jeden Nachmittag drei Stunden mit ihrem Kind hin und büffelte. Am Ende scheiterten sie beide. An den Richtlinien, den Schulämtern und dem Unterricht, bei dem Isabelle nicht mehr mithalten konnte. »Nach einem Jahr war sie kaum noch zu bewegen, aus dem Haus zu gehen.«

Heute besucht Isabelle eine Außenklasse der Peter-Rosegger-Schule an der Reutlinger Waldorfschule. »Was Besseres hätte ihr nicht passieren können.« Isabelle wird gemeinsam mit anderen Down-Syndrom-Kindern unterrichtet. Bei Sport, Handarbeiten oder dem Besuch der Römer-Ausstellung machen sie mit anderen Klassen gemeinsame Sache.

»Auf neue Situationen muss man sie vorbereiten«

Isabelle ist ein Kind wie alle anderen auch. Nicht wie die ihres Alters, aber mit ähnlichem Tagesablauf. Morgens Schule, nachmittags Klavierunterricht, Hip-Hop-Gruppe, Freizeitclub im Kaffeehäusle oder Zirkusprojekt. Im Sommer fährt sie Rad, Inliner, schwimmt. Im Winter sitzt sie stundenlang an Puzzles, schreibt Bücher ab, schaut Videos an. Sie besucht mit ihrer Mutter das Dornröschen-Ballett, schickt ihrem Vater SMS'en. Sie geht alleine Einkaufen, fährt mit dem Bus zur Schule. Was eingeübt ist, was sie sehen, anfassen und nachvollziehen kann, klappt prima. Würde aber beispielsweise die RSV streiken und der Bus käme nicht, wäre Isabelle aufgeschmissen. »Auf neue Situationen«, sagt die Mutter, »muss man sie vorbereiten.«

Isabelle hat ihren stillen Protest inzwischen aufgegeben. Sie sitzt selbstversunken am Klavier, spielt »Schneeflöckchen«. Die fremde Frau darf später sogar ihr Zimmer anschauen. Stolz zeigt Isabell das große Puzzle, an dem sie arbeitet. Und den Stapel Bücher, mindestens zwölf, auf ihrem Nachtisch. »Alice im Wunderland«, erzählt sie, mag sie am liebsten. Zeit zum Abschied. »Wann kommst du wieder?«, fragt Isabelle. (GEA)